Die „Ibiza-Affäre“ hat in Österreich etwas bewirkt, was als undenkbar galt: Fachminister und Abstimmungsfreiheit im Parlament!
Bisher scheiterten die großen Reformen stets am Koalitionspartner. Eine Regierungspartei machte die jeweils andere für das Scheitern verantwortlich. Abstimmungsfreiheit gab es nie. Im Nationalrat herrschte Koalitions- und Klubzwang. Gegenseitiges Überstimmen war verboten. Wer erinnert sich nicht daran, als die FPÖ-Abgeordneten im Parlament für CETA und Schiedsgerichte stimmten, weil dies im Koalitionsvertrag mit der ÖVP so vereinbart war. Und umgekehrt: Wer erinnert sich nicht daran, als sich die Türkisen darüber echauffierten, dass die Blauen eiskalt eine Volksabstimmung über das Rauchverbot ablehnten, obwohl dies zuvor rund 900.000 Bürger in einem Volksbegehren gefordert hatten.
Nach dem ur-österreichischen Motto „Es muss etwas geschehen, aber es darf nichts passieren“ machte man oft bloße Symbolpolitik – im Asylwesen etwa, damit die Blauen das Gesicht nicht verlieren (Stichwort: „Ausreisezentrum“). Die großen Probleme des Landes blieben aber ungelöst: Österreich hat weiterhin eine Steuer- und Abgabenlast von fast 50%. Jeder Arbeitnehmer arbeitet von Jänner bis Anfang Juli ausschließlich für den Staat. Vermögensaufbau ist für Familien fast unmöglich. Franz Schellhorn von der Agenda Austria brachte es auf den Punkt: „Wenn jemand ausmalen lässt, muss er 1100 Euro brutto verdienen, um die Rechnung des Malers in Höhe von 600 Euro bezahlen zu können. Dem Maler selbst bleiben 260 Euro. Am Ende dieser Transaktion gehen also 260 Euro an den Maler und 840 Euro an den Staat. Das ist leistungsfeindlich.“
Es herrschen Kammerzwang, kalte Progression und Ausschaltung der Bürgerbeteiligung. Österreich hat pro Kopf um 27% höhere Verwaltungsausgaben als Deutschland. Zahlreichen Pensionisten droht Altersarmut, obwohl mehr als 25% aller Staatsausgaben Pensionsleistungen sind. Klimapolitik ist ein Fremdwort: Die Regierung hat bei der Steuerreform sogar das Risiko von Milliardenstrafen wegen Verfehlung von Klimazielen in Kauf genommen.
Und dennoch schien diese Regierung vielen Bürgern das kleinere Übel zu sein. Zu tief saß der Schrecken vor einer Fortsetzung der rot-schwarzen Koalition, die heillos zerrüttet und völlig reformunfähig war.
Nunmehr – groteskerweise – hat die „Ibiza-Affäre“ etwas bewirkt, was es in unserem unser Land seit Gründung der II. Republik noch nie gegeben hat: einen Systemwechsel – eine „kleine Revolution“. Die Bundesregierung ist vom Nationalrat abgewählt worden, Experten sind Minister und im Parlament herrscht das freie Spiel der Kräfte. Das „Links-Rechts-Schema“ scheint aufgehoben. Bis zur nächsten Wahl gibt es nur noch Vernünftiges und Unvernünftiges. Rot- Blau könnte mit einfacher Mehrheit TTIP zu Fall bringen, Rot-Türkis könnte das Rauchverbot beschließen und Türkis-Blau das Sicherheitsproblem angehen. Wer weiß, welche großen Würfe noch gelingen. Die Liste „Jetzt“ will eine Valorisierung des Pflegegeldes, ein Verbot von Glyphosat und ein Ende von Großspenden an Parteien.
In Abwandlung eines geflügelten Wortes von George Bernard Shaw könnte man sagen: Experten als Minister und Abstimmungsfreiheit sind für Machtpolitiker gefährlich. Denn die Bürger könnten sich daran gewöhnen.